„In der heutigen Zeit, in der Informationen frei zugänglich sind, kann jeder Amateur jede Behauptung mit genügend gesüßten Kuchendiagrammen und Kirschstatistiken füllen, um jede Ideologie appetitlich erscheinen zu lassen. Die Wahrheit war schon immer schwer zu finden, aber heutzutage wird sie durch die relativ gleichmäßige Fähigkeit eines jeden, der über ein WiFi verfügt, öffentlich zu kommunizieren, verschleiert.“ (Steven Morgan)
Die kleine, persönliche Lüge hat ein zerbrechliches Einzelleben. Die versuchte lückenlose Beweisführung kann sich so künstlich aufblähen, die Fakten so ins Unwahrscheinliche treiben, dass es ein geniales Gedächtnis braucht, um alles beieinander und den Kurs zu halten. Und selbst dann wird der Lügner wegen des enormen Aufwands, den er betreiben muss, entlarvt.
Titel und Text aus dem Roman „Der letzte Schamane“ von Juri Rytcheu
„Wenn Mletkin den endlosen Raum bis zum Horizont betrachtete, fühlte er zuweilen nicht nur ein Entrücktsein, sondern oft auch eine unerträgliche, schmerzende Überfülle an Gedanken und Gefühlen. Manchmal war die innere Aufregung so stark, dass er am liebsten einen Schritt nach vorn, in den Abgrund, getan hätte. Er wäre über diesen grenzenlosen Weiten geschwebt, wäre über die Wasseroberfläche gegangen, als Vogel geflogen und hätte mit den Flügeln den Wellenschaum berührt! Und noch besser – er hätte sich überhaupt in Luft aufgelöst, dann wäre er nicht nur schwerelos gewesen und unsichtbar, sondern allgegenwärtig und alles durchdringend.“
Wir haben der Liebe einen Zeitzünder mitgegeben/Jetzt ist der Moment des Schweigens gekommen/Ein großes Aber nistet in den Verästelungen der Geschichte/Macht tritt gegen Ohnmacht an/Windfest gerüstet – zum Verwechseln sind die Beiden/Wir wollen verharren, doch wir müssen fort.
„Der Zeitgeist unserer Zeit ist das Paradoxon unseres Geistes, unseres Denkens.“ (Netzfund zur Frage: „Was ist der Zeitgeist unserer Zeit“ )
Heißt das, unser Denken akzeptiert Dinge, die unser Geist ablehnt und verhält sich opportun zur Wahrheit? Neuerdings steht ein seltsamer Mensch vor der Tür und verhält sich dort seit Tagen für einige Stunden still, bevor er sich lautlos umdreht und weg geht. Am nächsten Tag steht er wieder da. Und das schon seit Wochen. Der tägliche Anblick dieses Menschen ist zermürbend. Und manchmal denke ich, hat sich sein Gesicht verändert, ist in die Augen, die so teilnahmslos wirken, etwas sonderbares eingezogen; hängen die Mundwinkel mürrisch herab; trägt er eine Zornesfalte? Nach etwa einem Monat bemerke ich eine neue Jacke; sie scheint an einer Seite ausgebeult zu sein. Der Zeitgeist flüstert: „Es ist ein Mensch, der dir nahestehen sollte; wer weiß, wieviel Leid er erfahren musste und nur du kannst ihm helfen.“ Ich bin beschämt, denke aber, dass ich mich bedroht fühle angesichts der täglichen stummen Aufwartung. Und wie ist das mit dem „Nahestehen“ gemeint, hier rebelliert mein Geist, mein Denken schweigt. „Lade ihn doch ein in dein gemütliches Zuhause“, insistiert der Zeitgeist, “ vertreibt euch gemeinsam die Zeit. „- „Nein“, sagt mir mein Geist, „Ich will das nicht! Was soll ich mit so einem unheimlichen Gast?“ Monatelang erscheint der Fremde, der mir immer fremder wird. Inzwischen wird er auf der Straße oder direkt vor meinem Haus freundlich, fast vertraulich von den Nachbarn gegrüßt – und ich ernte missbilligende Blicke. Der Zeitgeist, denke ich, schlägt deutlich gegen mich aus. Das scheint dem Ungebetenen Kraft zu verleihen. Neuerdings trägt er gut sichtbar Waffen: ein Springmesser zum Schälen geschenkter Äpfel, eine Schreckschusspistole, wahrscheinlich, um … – sollte ich auf den Gedanken kommen, ihn gewaltsam zu vertreiben. Der Zeitgeist rät: lege täglich einen Apfel vor die Tür.
Der märchenhafte Reinhardswald war Inspirationsquell der Brüder Grimm. Vom Turm der Trendelburg ließ Rapunzel ihr goldenes Haar herunter, die Sababurg war das Schloss von Dornröschen. Heute findet Hans sein Glück nicht mehr wie früher im Reinhardswald, sondern stößt auf Windräder.
Die Märchensammler Brüder Grimm lebten fast 30 Jahre lang in Kassel; zahlreiche ihrer bekannten Märchen spielen oft im Wald, im tiefen, dunklen Reinhardswald. Der Unterschied: Im Märchen gewinnt das Gute.
Wenn etwa Esel, Hund und Katze altersschwach von ihren Höfen weggejagt werden, müssen sie auf ihrem Weg nach Bremen durch den Wald gehen. Dort entwickeln sie ungeahnte Kräfte, um Gefahren zu überwinden. Wenn Kinder im Wald ausgesetzt werden, müssen sie das Böse überwinden. Im Märchen besiegen sie sogar die alte böse Hexe, schieben sie in den Ofen. Doch die ist heute grün.
Unter Umständen, möglicherweise, vielleicht ist dieses „viel-leicht“ verzichtbar. Schätzungsweise soll es im 15. Jahrhundert aus „vil mer“ entstanden und später in der Schriftform zusammengerückt worden sein. Die Bedeutung erschließt sich nur im gewollt Ungefähren, also kann ich vielmehr darauf verzichten, wenn ich viel und leicht verstanden werden möchte.
Wenn du auf ein Wort verzichten müsstest, das du regelmäßig verwendest, welches wäre das?
Meister, wir sind die Pilger, wir gehen immer noch einen Schritt weiter. Denn hinter jenem blauen, schneebedeckten Gipfel, jenseits des tosenden, glitzernden Meeres, weiß auf einem Thron oder bewacht in einer Höhle, lebt vielleicht der Seher, der weiß, wozu der Mensch geboren ist …
Die Göttin der Illusion führt mich auf seltsame Wege. Bin ich von einer Erscheinung berührt, ist es ihr geheimnisvolles Zusammenspiel verschiedener Komponenten wie Farben, Licht, äußere Form. Ein jedes lässt sich auf seine Grundbausteine untersuchen, dann aber verschwindet der sinnliche Zauber. Und im wesentlichen verschwindet auch der Schöpfergeist hinter der Erscheinung, verunsichert uns durch seine Versicherung, scheinbar nicht zu existieren. Ein Lehrbeispiel dafür, dass alle Materie dem Geist folgt?
Engel A: Der Park ganz in der Nähe döst mittags im August. Schwere Dolden hängen über dem Boden; die Schafskopfhortensie trägt melancholisches Weiß. Trauerweidenzweige streichen über himmelfarbnen Wasserspiegel, Schilf und gelbe sibirische Lilien umrahmen den Teich. Wildes Geranium und zitronenfarben grelle Blüten der Rauke, hellblauer Phlox, gebeugtes Gras und ein Blick hinauf in die alte Eiche. Dann kommen Gartenmauern, über die sich wilde Rosen gießen, ein Schmuck, an dem die Augen hängen und silberne Spinnenfäden, zwischen Farne gespannt. Suchen wir Steine, stören die Unke, pflücken nachts Sterne, denken an die Welt? An die Welt denke ich nicht gerne. Mich stören die gleichgültigen Menschen.
Engel B: Sie werden verschwinden, nachdem sie alles verschwendet haben.
Engel A: Sie glauben jeden Mist! Hörst Du, sogar wenn sie in dieser Idylle ein Butterbrot essen, brüllt das Radio auf sie ein. Warum geben wir uns so viel Mühe mit der heiligen Natur? Sie sind voller Mutwillen und Gier, sie zertrampeln die Stille, die ihnen etwas sagen will.
Engel B: Nein. Wir sprechen doch schon lange nicht mehr mit ihnen. Der Sturm wird ihnen das bringen, was in der Wüste tobt. Sie haben da so einen tollwütigen Kriegsherrn.
Engel A: Vorsicht, sie haben dich schon angesteckt mit ihren Problemen. Lass uns den Tag genießen. Der Park ganz in der Nähe döst mittags im August.